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Bernd Stiegler: Was ist moderne Photographie? Walter Benjamins Renger-Patzsch-Verdikt [DE/FR]


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Eine Kritik kann zu einem Verdikt werden, das als vernichtendes Urteil wie ein Damoklesschwert lange über seinem Gegenstand schwebt und künftig dessen Rezeption bestimmt, da eine jede weitere Stimme sich fortan zu ihr zu verhalten hat. Die wohl berühmteste dieser Art stammt von Walter Benjamin und betrifft den neusachlichen Photographen Albert Renger-Patzsch, dessen Werk hier in einer großen Ausstellung gezeigt wird. Auch wenn es durchaus zweifelhaft ist, daß Benjamin mit dem Werk von Renger vertraut war, und er es vielleicht sogar überhaupt nicht kannte, hat sie sich rasch verbreitet und ein Bild entworfen, dem sich fortan Rengers Bilder nur mit Mühe entziehen konnten. Renger-Patzsch geht umgekehrt in seinen Schriften und auch in seiner Korrespondenz nicht ein einziges Mal auf sie ein, so als hätte er sie nicht gekannt oder zumindest ignoriert.
Renger-Patzsch ; Industrie

Albert Renger-Patzsch, Zeche “Heinrich-Robert”, Turmförderung, Pelkum bei Hamm, 1951, Albert Renger-Patzsch Archiv / Stiftung Ann und Jürgen Wilde,
Pinakothek der Moderne, Munich
© Albert Renger-Patzsch / Archiv Ann und Jürgen Wilde, Zülpich / ADAGP, Paris 2017

Doch wie sieht dieses Verdikt genau aus? Anfänglich allgemein gehalten, wird es sukzessive auf Albert Renger-Patzsch gemünzt, genauer auf sein fraglos epochales Buch Die Welt ist schön. Dieses sollte, wie Renger-Patzsch erinnert, eigentlich den Titel « Die Dinge » tragen, was aber dem Verleger nicht gefiel, da er ihn für nicht hinreichend verkäuflich hielt. Ursprünglich stammt die Kritik von dem heute vergessenen Soziologen Fritz Sternberg, findet dann aber über seine Aufnahme durch Bertolt Brecht und vor allem eben durch Walter Benjamins 1931 publizierte « Kleine Geschichte der Photographie » Eingang in die Photographietheorie, um fortan den roten Faden der gesellschafts-, kapitalismus- und kulturkritischen Debatten zu bilden: „Die Lage wird dadurch so kompliziert“, heißt es programmatisch in Brechts Dreigroschenprozeß, „daß weniger denn je eine einfache ‘Wiedergabe der Realität’ etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.“1 Von Renger ist hier erst einmal nicht die Rede, auch wenn seine Aufnahmen der Krupp-Werke den Zeitgenossen vertraut gewesen sein dürften und damit die Referenz auch ohne namentliche Nennung deutlich war. Dieses Zitat avancierte dann über Jahrzehnte hinweg zum meistangeführten einer kritischen Photographietheorie und findet sich selbst in einem Video-Interview mit Andreas Gursky.

Wenn man Bertolt Brecht nun aber als Autor dieser Sentenz ansetzt, so bezeichnet man eher denjenigen, der für ihre Verbreitung gesorgt hat. Brecht beruft sich nämlich seinerseits – ohne daß bis heute eine genaue Quelle zu ermitteln wäre – auf den Soziologen Fritz Sternberg und zwar in einem Text, den er selber als „soziologisches Experiment“ bezeichnet, genauer in seinem Dreigroschenprozeß. Diesen hat er nach einer urheberrechtlichen gerichtlichen Auseinandersetzung über eine geplante Verfilmung der Dreigroschenoper geschrieben. Es ist ein Text, der in extenso Zitate montiert, indem er auf die Urteilsbegründung, aber auch auf die öffentlichen Reaktionen in der Tagespresse und zahlreiche literarische Texte etc. zurückgreift. Der Montage- wie Experimentalcharakter des Textes versucht formal wie theoretisch, so Brecht, in der Argumentationsstrategie, die der Text gleichwohl verfolgt, auf einen objektiven Standpunkt zu verzichten. Dieser Versuch, „die gesellschaftlichen Antagonismen zeigen, ohne, sie aufzulösen“2 und damit deutlich zu machen, daß innerhalb des „Kräftefeldes der widersprechenden Interessen“3 eine strategische und zugleich absolut parteiische Positionierung erforderlich ist, ist strategische Konsequenz der Beobachtung, daß eine objektive Position nicht mehr möglich ist und vielmehr methodische Darstellungs- wie Analyseformen gefunden werden müssen, die „kollektiven Denkprozessen“4 gleichen. Es geht ihm also nicht nur um eine Reflexion über die gesellschaftliche Funktion von Recht und Rechtsprechung, um die diffizile Unterscheidung von fortschrittlicher wie rückständiger Kunst, sondern um eine Bestimmung des veränderten Status einer theoretisch reflektierten und politisch aufgeklärten Kunst innerhalb des Geflechts von Interessen und von „immer dichteren Medien“, durch den sich auch die Haltung des Schreibenden verändert: Er wird zum „Instrumentebenützer“. Der Film hat nicht zuletzt eine zentrale Bedeutung für die „Umfunktionierung der Kunst in eine pädagogische Disziplin“5, auch und gerade weil die Darstellung der Realität problematisch geworden ist. In diesem Zusammenhang findet sich nun das folgende Zitat (und hier nun in ganzer Länge): „Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ‘Wiedergabe der Realität’ etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ‘etwas aufzubauen’, etwas ‘Künstliches’, ‘Gestelltes’. Es ist also ebenso tatsächlich Kunst nötig.“6

Brechts Antwort auf diese, so könnte man sagen, „objektive“ Schwierigkeit, einen objektiven Standpunkt zu finden, ist das „soziologische Experiment“ als funktionaler Versuch, die Widersprüche bereits in der Darstellung sichtbar zu machen und die Darstellung auf strategische Montage und Konstruktion zu verpflichten. Brechts Photographie-Sentenz nimmt keineswegs die Fotografie als solche ins Visier, sondern zielt auf das Darstellungsproblem der Kunst insgesamt, das an ihr in Gestalt eines pars pro toto illustriert wird. Theodor W. Adorno wird sie in seiner ‘Balzac-Lektüre’ aufnehmen und auf die schöne Formel bringen, daß „das ens realissimum Prozesse sind, keine unmittelbaren Tatsachen, und sie lassen sich nicht abbilden.“7

Renger-Patzsch

Couverture de Die Welt ist schön. Einhundert photographische Aufnahmen von Albert Renger-Patzsch, Carl Georg Heise, Munich, Kurt Wolff-Verlag, 1928

Die Langfassung von Brechts Text erschien erst im Januar 1932 im dritten Heft der Versuche, Walter Benjamins « Kleine Geschichte der Photographie », in der Brecht zitiert wird und in der das Verdikt nun auch seine kanonisierte Form annimmt, allerdings in drei Lieferungen bereits zwischen dem 18. September und 2. Oktober 1931 in Die Literarische Welt. Wahrscheinlich hat Brecht mit Benjamin vorab über seine Kritik gesprochen. Benjamin zitiert Brecht, so als wolle er die besondere Bedeutung der Kritik unterstreichen und sich zugleich zueigen machen, noch bevor der zitierte Text überhaupt erschienen ist, und montiert das Zitat zugleich in einen anderen Kontext und mit einem expliziten Gegner: Nun steht das Zitat ohne bis dahin belegbare Quelle in einer strategischen Frontstellung gegen die Fotografie der Neuen Sachlichkeit und zielt insbesondere auf Albert Renger-Patzsch: „Das Schöpferische am Photographieren“, heißt es nun bei Benjamin, „ist dessen Überantwortung an die Mode. ‘Die Welt ist schön’ – genau das ist ihre Devise. In ihr entlarvt sich die Haltung einer Photographie, die jede Konservenbüchse ins All montieren, aber nicht einen der menschlichen Zusammenhänge fassen kann, in denen sie auftritt […]. Weil aber das wahre Gesicht dieses photographischen Schöpfertums die Reklame oder die Assoziation ist, darum ist ihr rechtmäßiger Gegenpart die Entlarvung oder die Konstruktion. Denn die Lage, sagt Brecht, wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ‘Wiedergabe der Realität’ etwas über die Realität aussagt. […] Es ist also tatsächlich ‘etwas aufzubauen’, etwas ‘Künstliches’, ‘Gestelltes’.“8

Die neusachliche Fotografie ist für Benjamin ein Fetisch; sie ist eine ästhetisierende Affirmation des Bestehenden, das in den „schöpferischen“ Bildern „Gleichnisse des Lebens“ ausmacht. In Benjamins Tableau der modernen Fotografie stehen ihr auf der einen Seite Sander, Krull und Blossfeldt und auf der anderen die Surrealisten und der russische Revolutionsfilm entgegen. Während die einen physiognomische, politische oder wissenschaftliche Interessen verfolgen, geht es den anderen um eine dezidierte „photographische Konstruktion“. Dazwischen steht die rein darstellende, vermeintlich schöpferische Photographie, die Kultur und Natur, Technik und Leben in Bildern zu versöhnen sucht, in denen formale Entsprechungen eine innere Verwandtschaft suggerieren und die sich jedem konstruktiven Zug widersetzt. Das soll in den Augen Benjamins die Position von Renger-Patzsch sein. Mit dieser Einschätzung sollte er nicht alleine stehen: Kanonisiert wurden eben jene von Benjamin emphatisch gefeierten Positionen, deren (auch politische) Ambivalenz erst viel später deutlich werden sollte. Verurteilt wurde hingegen Renger-Patzsch, der im Dreigestirn der neusachlichen Photographie neben Sander und Blossfeldt historisch, politisch und theoretisch der Verlierer bleiben sollte – und das über Jahrzehnte hinweg. Renger-Patzsch wurde eben nicht zum lucky looser, der dann am Ende doch obsiegt, sondern schon von Anfang an zum historischen und politischen Altbestand.

Renger-Patzsch ; Zeche ; RWE

Albert Renger-Patzsch, Zeche “Victoria Mathias” der RWE, 1931
Museum Folkwang, Essen
© Albert Renger-Patzsch / Archiv Ann und Jürgen Wilde, Zülpich / ADAGP, Paris 2017

Zwischen Walter Benjamin und Albert Renger-Patzsch liegt ein vermeintlich unüberwindlicher Graben, den ersterer nicht zuletzt durch eine weitere nun noch expliziter auf Renger-Patzsch zugespitzte Verwendung des Sternberg-Zitats weiter ausgehoben hat. In seinem Aufsatz „Der Autor als Produzent“ heißt es nun: „Nun aber verfolgen Sie den Weg der Photographie weiter. Was sehen Sie? Sie wird immer nuancierter, immer moderner, und das Ergebnis ist, daß sie keine Mietskaserne, keinen Müllhaufen mehr photographieren kann, ohne ihn zu verklären. Geschweige denn, daß sie imstande wäre, über ein Stauwerk oder eine Kabelfabrik etwas anderes auszusagen als dies: die Welt ist schön. ‘Die Welt ist schön’ – das ist der Titel des bekannten Bilderbuchs von Renger-Patsch (sic!), in dem wir die neusachliche Photographie auf ihrer Höhe sehen. Es ist ihr nämlich gelungen, auch noch das Elend, indem sie es auf modisch perfektionierte Weise auffaßte, zum Gegenstand des Genusses zu machen.“9

Damit sind die Dinge klar ausgesprochen: Die Technikphotographie eines Renger-Patzsch ist eine reine Ästhetisierung des Dargestellten, seine ästhetische Verklärung. Die neusachliche Photographie setzt also in den Augen Benjamins die Auratisierung des Gegenstands fort, die die von ihm vielgescholtenen Piktorialisten im Sinn hatten. Damit vertritt sie ein dezidiert antimodernistisches Programm. Die Formel ist deutlich genug: Mimesis und Kunst sind Teil der bürgerlichen Kultur, Konstruktion und Information Teil der Moderne. Das ist Benjamins Antwort auf die „philosophischen Fragen“, die „Aufstieg und Verfall der Photographie nahelegen“ und auf die er in seinen „Kleinen Geschichte der Photographie“ eine Antwort sucht.10

Damit ist auch das Verdikt gegenüber den Arbeiten von Renger-Patzsch präzisiert. Dieser steht pars pro toto für eine ästhetisierende und formal orientierte Technikphotographie. Als spezifische Position zählt er kaum. Er ist – und das nicht zuletzt aufgrund des Titels Die Welt ist schön – eine Chiffre. Dafür spricht, daß sich neben den bereits angeführten wenig ins Detail gehenden Anmerkungen und einer beiläufigen Erwähnung in einer Art Klassifikation der neuen Sachlichkeit in seinem gesamten Werk kein einziger weiterer Hinweis auf den Photographen findet. Doch Benjamin geht es auch weniger um eine kritische Würdigung des Werks oder gar um dessen filigrane Interpretation als vielmehr um das Abstecken von theoretischen Grenzen: Renger-Patzsch markiert ein No Go der modernen Photographie und dementsprechend deutlich fällt dann auch die Abgrenzung aus. Benjamins Frage ist schlicht und einfach: Was ist eine moderne Photographie?

Benjamin unterscheidet dabei zwischen einer „richtigen“ und einer „falschen“ Montage und einer modernen und einer anti-modernen Photographie: Auf der einen Seite stehen Photomonteure à la John Heartfield, der als Beispiel einer entlarvenden Montage angeführt wird, auf der anderen eben Renger-Patzsch, der zwar in seinem gesamten Werk nicht ein einziges Mal mit der Technik der Photomontage gearbeitet hat, hier aber mit dem Gedankenexperiment einer ins All montierten Konservenbüchse vorgestellt wird. Der einem präzisen zeithistorischen Kontext verpflichtete und in der Grundhaltung aufdeckende Montage steht eine im Wortsinn allgemeine Übertragung gegenüber, die bar jeder historischen Zuordnung technisch-industrielle Artefakte dekontextualisiert und ihnen den geschichtlichen Index entzieht. Das Gezeigte soll eben nur schön sein.

Benjamin nimmt im sogenannten « Zweiten Pariser Brief » ein drittes Mal seine Kritik auf und präzisiert sie, indem er ein weiteres Moment ergänzt: „Der Irrtum der kunstgewerblichen Photographen mit ihrem spießbürgerlichen Credo, das den Titel von Renger-Patzschs bekannter Photosammlung ‘Die Welt ist schön’ bildet, war auch der ihre. Sie verkannten die soziale Durchschlagskraft der Photographie und damit die Wichtigkeit der Beschriftung, die als Zündschnur den kritischen Funken an das Bildgemenge heranführt (wie wir das am besten bei Heartfield sehen).”11

Renger-Patzsch ; Lübeck ; Kauper

Albert Renger-Patzsch, Kauper, Hochofenwerk Herrenwyk, Lübeck, 1927
Albert Renger-Patzsch Archiv / Stiftung Ann und Jürgen Wilde,
Pinakothek der Moderne, Munich © Albert Renger-Patzsch / Archiv Ann und Jürgen Wilde, Zülpich / ADAGP, Paris 2017

In starker Abbreviatur und wie oft bei ihm etwas enigmatisch formuliert, verknüpft Benjamin hier drei unterschiedliche Aspekte: Erstens geht es ihm ein weiteres Mal um die Bedeutung der Lesbarkeit, die im Zentrum seiner Überlegungen zur Photographie, ihrer Geschichte und der mit ihr verbundenen philosophischen Fragen steht. Auf eine Formel gebracht: Um die Photographie im 19. Jahrhundert verstehen zu können, bedarf man der Erzählung, der Tradition, sprich der Dauer; um jene in der Moderne lesen zu können, braucht es hingegen der Beschriftung, die Information, sprich dem historischen Augenblick, der Gegenwart.

Zweitens geht es um eine veränderte Funktion der Photographie. Die Photographie in Zeiten der Moderne hat, da sie nicht länger auf Dauer zielt, eine neue Funktion. Sie erscheint in Kontexten des unmittelbaren Gebrauchs (etwa Zeitschriften) und einer höchst praktischen, weil funktionalen Verwertung. Zugleich bedarf die Photographie einer Erläuterung, da sie ohne diese stumm bleibt und ihres Informationswerts verlustig geht. Eine auf Information und – in Benjamins Vorstellung – Politik wie Kritik zielende Photographie ist notwendig mit Texten verbunden.

Drittens ist die Beschriftung auch Zeichen wie Folge der zu konstatierenden Entfremdung. Benjamin bringt dies auf die Formel des Tatorts. Wenn die Photographie Indiz sein will – und das soll sie in den Augen Benjamins sein – muß das Gezeigte weiterhin möglichst präzise mit Informationen zur Zeitstelle und zum soziohistorischen Kontext versehen werden. Das Bild allein ist nicht hinreichend, weil nicht aussagekräftig genug. Ein Bild mag zwar mehr als tausend Worte sagen, tut dies aber in recht ungenauer Weise – wie nicht zuletzt zahllose Beispiele aus der Geschichte zeigen. Erst dank der Beschriftung kann man auch im Nachhinein Geschichte über Bilder lesbar machen. Diese zeugen nicht zuletzt vom Verschwinden des Menschen, denn, so will es seine Deutung Atgets: die Bilder sind menschenleer. Die Entfremdung ist zum Bild geworden, in Aufnahmen geronnen, kann aber auf der Zeitachse genau bestimmt werden.

Faßt man diese Anmerkungen zusammen, so versucht Benjamin in seiner Deutung der Moderne die Photographie konsequent in der Perspektive der Historizität und der Aktualität zu denken. Während die überkommenen Formen der Tradition und nicht zuletzt jene der Erzählung noch auf Dauer zielten, so kommt es nun auf den Augenblick und die unmittelbare politische Verwertung wie kritische Verwertbarkeit der Bilder an. Renger hingegen wählt noch in der Moderne in Benjamins Deutung die Option der Dauer und das inmitten einer beschleunigten Moderne. Er ist in seinen Augen ein moderner und zugleich durch und durch anti-modernistischer Photograph.

Benjamins bzw. Brechts Kritik findet sich noch bei Alexander Kluge und wird nun als Realismus-Problem insgesamt gefaßt. „Montage“, so schreibt Kluge, „ist eine Theorie des Zusammenhangs. Beim Filmemachen stehe ich immer vor dem Problem, daß das, was ich sehen kann, den Zusammenhang eigentlich nicht enthält. Brecht sagt zum Realismus: was nützt eine Außenansicht der AEG, wenn ich nicht sehe, was sich in diesem Gebäude alles an Beziehungen, an Lohnarbeit und Kapital, in internationalen Verflechtungen abspielt – eine Fotografie der AEG sagt nichts über die AEG selbst aus. Insofern sind, wie Brecht sagt, die meisten wirklichen Verhältnisse in die Funktionale gerutscht. Das ist der Kern des Realismusproblems. Wenn ich Realismus als eine Kenntnis von Zusammenhängen begreife, dann muß ich für das, was ich nicht im Film zeigen kann, was die Kamera nicht aufnehmen kann, eine Chiffre setzen. Diese Chiffre heißt: Kontrast zwischen zwei Einstellungen; das ist ein anderes Wort für Montage. Es geht also um konkrete Beziehungen zwischen zwei Bildern. Dadurch, daß zwischen zwei Bildern eine Beziehung entsteht und die Bewegung (das sogenannte Filmische) zwischen zwei Bildern steckt, ist in diesem Schnitt die Information versteckt – die in der Realaufnahme der Einstellung selbst nicht stecken würde. Das heißt, die Montage befaßt sich mit etwas ganz anderem als ein Film, der nur aus Rohmaterial besteht.“12

Renger-Patzsch ; Schuhfabrikation ; Industrie

Albert Renger-Patzsch, Bugeleisen fur Schuhfabrikation, Faguswerk Alfeld, 1928
Albert Renger-Patzsch Archiv / Stiftung Ann und Jürgen Wilde,
Pinakothek der Moderne, Munich
© Albert Renger-Patzsch / Archiv Ann und Jürgen Wilde, Zülpich / ADAGP, Paris 2017

Albert Renger-Patzsch erscheint hier erneut als ein Photograph, der die Moderne verfehlt, indem er sich gerade auf ihre Embleme konzentriert: auf Stahlwerke und Fabriken, maschinelle Konstruktionen und industrielle Artefakte. Er ist aber nicht zuletzt dank der Ausstellung im Jeu de Paume als ein Photograph zu entdecken, der sich radikal der Moderne verschrieben hat, ohne aber ihre Ambivalenzen zu vergessen. Wie kaum ein zweiter Photograph versucht er, eine Bildsprache der Moderne zu finden und zu entwickeln, die erst einmal frei ist von politischen Zugriffen und vielmehr nach Formen und Strukturen sucht, die zu Leitbildern einer Epoche geworden sind. Der photographische Realismus von Renger-Patzsch zielt auf Bilder der Moderne mit all ihren Zweideutigkeiten. Dazu gehört auch das Oszillieren zwischen Dokument und Komposition, zwischen Augenblick und Dauer, das Renger immer wieder beharrlich auslotet. Die Moderne wird bei ihm gleichsam in zeitlose Bilder gebracht, nicht zuletzt weil dies eben auch Teil des modernistischen Programms war. Die Geschichte sollte seinerzeit neu beginnen. Renger-Patzsch ist dabei weniger Kritiker als Archivar und gerade deshalb hier und heute als einer der modernsten neusachlichen Photographen zu entdecken. Eine Aufklärung über die Krupp-Werke wird man ihm nicht erwarten können, wohl aber eine Bestandsaufnahme dessen, was seinerzeit die Moderne auszeichnete. Diese in Bilder zu bringen, die im Rückblick eine Epoche lesbar machen, ist dabei kein geringes Verdienst.

Bernd-Alexander Stiegler, 2017
Bernd Stiegler ist Professor für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt 20. Jahrhundert im medialen Kontext an der Universität Konstanz.



Ausstellung « Albert Renger-Patzsch, Sachen »

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